Der Sinn des Lebens
Body and Soul
... Es war grauer November geworden, die Tage wurden kalt und nass. Doch plötzlich riss der Himmel auf und zauberte ein paar Sonnenstrahlen hervor.
Ich zog mich an, nahm meine Stöcke und ging hinaus. Hier war er wieder, der Geruch nach feuchter Erde, nassem Laub und Moos. Vorsichtig ging ich die 42 Stufen hinunter bis zum Gehweg. Dann startete ich die Aufzeichnung.
Ich hatte mir Walkingstöcke gekauft und erste Gehversuche damit gemacht. Gegenüber den Krücken fühlte ich mich damit viel freier. Ich zeichnete auf meinen Wegen jetzt wieder Strecke und Geschwindigkeit auf, wie früher beim Training, bekam neue ‚Rekorde‘ gemeldet und freute mich an den Erfolgen.
Ich konzentrierte mich auf meine Schritte und spürte, wie die Bewegungen zunehmend runder wurden und versuchte, mich jetzt ein bisschen zu fordern. Mein nächstes Ziel war es, einen Kilometer in weniger als 15 Minuten zu schaffen. Und dann würde ich versuchen, dieses Tempo auch über eine etwas längere Strecke durchzuhalten. Und dann vielleicht auch einmal wieder ganz ohne Stöcke gehen. Und dann wieder Radfahren. Und vielleicht auch wieder joggen.
Carpe Diem
Irgendetwas in meinem Kopf funktionierte jetzt anders als vor dem Unfall. Nach dem Aufwachen wusste ich fast immer noch genau, was ich geträumt hatte, und konnte mich an Personen, Abläufe und Details erinnern. Ich merkte, dass diese Welt der Träume nicht gänzlich ein Produkt des zufälligen Zusammenwürfelns vergangener Tagesereignisse war, denn manche Traumerlebnisse waren in einen größeren Zusammenhang eingebettet, der sich auch über mehrere Träume hinweg erstrecken konnte. So war mir eines Tages beim Aufwachen bewusst geworden, dass ich den Ort des Traumgeschehens bereits von früher kannte, obwohl es diesen in der Realität gar nicht gab.
Noch immer waren mir einige der ganz intensiven Träume aus der Zeit des Komas in Erinnerung, auch wenn diese sich nie mehr wiederholt hatten. Ich wusste noch, wie elend einsam ich mich fühlte, eingesperrt in dieser kleinen Zelle in dem Moment, als mein Abo abgelaufen war und ich keinen Wunsch mehr an das Leben hatte und sterben sollte. Ich hatte Glück gehabt und war in diese bunte Welt mit ihren vielfältigen Möglichkeiten und Angeboten zurückgelangt. Jetzt nutze sie, sagte meine innere Stimme, nutze sie und mache etwas daraus!
Am Ende meines Lebens wollte ich nicht wieder in einer Zelle sein und auf einen leeren Platz schauen müssen wie in meinem Traum, sondern einen blühenden Garten sehen und Menschen, denen ich mich verbunden fühlte. Dann sollten meine Erinnerungen an das Zurückgelassene nicht wieder eine Vanitas, dieses Gefühl der Vergeblichkeit, auslösen, sondern Hoffnung wecken, dass manches in diesem Garten wiedererscheinen und ihn mit ihren Früchten und Blüten bereichern würde.
So war ich nun zum Sammler geworden, ein Sammler der schönen Momente, der guten Gespräche, der harmonischen Begegnungen, der kleinen Erfolge, der Freude, jemandem geholfen zu haben, der Befriedigung, einen neuen Zusammenhang erkannt zu haben. Das Reservoir war unerschöpflich und ich fühlte, wie eine innere Stimme mich führte und half, mich zurechtzufinden. Viel öfter als früher vor dem Unfall spürte ich diese Momente großer Dankbarkeit, wenn ich wieder einmal einen Augenblick der perfekten Harmonie empfunden hatte.
Es muss doch jemanden geben, der ein besonderes Auge auf mich geworfen hat, dachte ich in diesen Momenten und war unendlich froh dabei.
Glück
Den lieben Gott erkenne ich durch seine Hinweise, mit denen er mich durchs Leben führt. Selten sind sie groß und stark wie damals, in meinen Träumen. Oft sind sie zart und immer unaufdringlich, nur Angebote, mich darauf einzulassen. Ich finde sie jeden Tag, und an den unterschiedlichsten Stellen, wenn etwas unerwartet gut verläuft, kleine Zufälle zusammentreffen, sich gegenseitig verstärken und ein großes Glücksgefühl auslösen. Es macht Spaß, danach zu suchen und die kleinen Funde bewusst zu erleben. Der Sinn des Lebens ist keine Suche mehr. Das Leben wurde mir neu geschenkt und macht mir täglich Vorschläge.
Das größte Glück liegt für mich darin, wenn ich anderen helfen kann und ihre Freude spüre, wenn eine Idee funktioniert und Harmonie entsteht. Es ist schön, wenn ich selber etwas Gutes erlebe, Glück wird es, wenn das erlebte Schöne in einem größeren Zusammenhang steht und andere Menschen einschließt. Wenn ich von meinen Erlebnissen und Gedanken erzähle und eine Resonanz spüre, die uns stärker macht. Oder wenn das Schöne das Ergebnis eines Plans ist und ich mich vorher lange dafür anstrengen musste.
Vielleicht bin ich selbst Teil eines Plans. Mein Fahrradunfall und die Erlebnisse danach. Vielleicht haben sie ein Gutes gehabt und sind in einem größeren Zusammenhang nützlich. Dann wäre es ein guter Plan.
Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen!