Ärzte und Therapeuten

zerstörtes Rennrad nach Frontalaufprall auf Auto

Polytrauma

„There is a golden hour between life and death. If you are critically injured, you have less than 60 minutes to survive. You might not die right then; it may be three days or two weeks later – but something has happened in your body that is irreparable.”
Dr. R. Adams Cowley, Begründer der Traumamedizin

 

Im Jahr 2016 starben in Deutschland 3.206 Menschen im Straßenverkehr, darunter 69 Radfahrer, die meisten an einem Polytrauma.

Ein Polytrauma kennzeichnet die gleichzeitige Verletzung mehrerer Körperregionen oder Organsysteme. Dabei ist bereits eine einzelne dieser Verletzungen oder die Kombination mehrerer für den Betroffenen lebensbedrohlich. Ein Polytrauma entsteht in der Regel im Zusammenhang mit einem schweren Unfall, bedeutet stets einen klinischen Notfall und betrifft circa ein Prozent aller Notarzteinsätze. 


Etwa 20 Prozent aller Polytraumata enden tödlich. 

 

Dr. R. Adams Cowley erkannte als erster die kritische Abhängigkeit der Überlebenschance vom Zeitraum zwischen Verletzung und chirurgischer Versorgung. Sein Konzept ermöglichte die Versorgung von Schwerverletzten in einem Operationssaal innerhalb einer Stunde und erhöhte damit die Überlebenswahrscheinlichkeit auf 85 Prozent.

Er nannte diese Zeitspanne die ‚Golden Hour of Shock‘: 


 

Eine goldene Stunde trennt das Leben vom Tod. Das kritische Polytrauma gibt zum Überleben keine 60 Minuten. Der Tod kommt nicht sofort, es kann drei Tage oder zwei Wochen später sein – aber irgendetwas ist nicht mehr umkehrbar.“

 

Die Golden Hour beginnt im Moment der Verletzung.

Computertomographie Frakturen beider Unterarme nach Fahrradunfall

Emergency Raum

Der Radiologe und der Unfallchirurg sitzen nebeneinander und blicken auf ein Breitwandkino von drei mal zwei verbundenen Flachbildschirmen. Mit schnellen Mausklicks inszeniert der Radiologe eine Expedition durch die Ergebnisse der CT-Aufnahme. Hier sieht er dreidimensionale Informationen, anders als bei einem gewöhnlichen Röntgenbild, das nur den zweidimensionalen Schattenwurf der Strahlen erfasst. Die Strahlenbelastung ist jetzt unerheblich, es geht ums Überleben.

Er beginnt am Kopf, scrollt durch die Tiefenebenen, verweilt bei auffälligen Details, zoomt näher heran, vergrößert den Ausschnitt wieder, fährt dann zum nächsten Körperteil. Hinter den beiden stehen ein Anästhesist und ein Notfallpfleger. Sie könnten wertvolle Hinweise beisteuern.

Schädelhirnverletzungen? 

Verletzungen an der Lunge?

Blutungen?

„Kopf prima vista ok.“

Der Radiologe scrollt weiter, zoomt auf die Halswirbel.

„Stabile Fraktur HWK sechs.“

„Behandeln wir konservativ.“

„Offensichtliche Lungenkontusion. Beidseitig. Hämatothorax.“

Der Radiologe scrollt weiter, zögert, runzelte die Stirn. Er zoomt auf die Hauptschlagader.

„Was ist das?“ 

Der Unfallchirurg beugt sich näher zum Schirm.

„Ein Einriss der Aorta?“

„Sieht ganz so aus.“

„Okay, dann müssen wir das schnellstens versorgen.“

Der Radiologe scrollt weiter. Innere Organe, Herz, Wirbelsäule und Rippen.

„Rippenserienfraktur dorsal links. Vier, fünf, sieben, acht. Mehrfachbrüche elf und zwölf.“

„Schau Dir mal den elften Brustwirbelkörper an.“

„BWK elf? Oha, das sieht nicht gut aus! Wahrscheinlich eine instabile Fraktur. Das braucht eine Osteosynthese.“

Der Radiologe klickt weiter. Innere Organe erscheinen: Nieren, Leber, Milz.

„Im Bauchraum sehe ich keine spektakulären Verletzungen.“ Niemand reagiert.

Der Radiologe fährt weiter, stutzt.

„Doch halt, schaut mal hier, die Darmarterie. Dieser Ast da gefällt mir nicht.“

Der Radiologe wendet sich zum Chirurgen, mit fragendem Blick.

„Ok, wir werden das im Auge behalten“, sagt der. „Wir müssen sehen, wie es sich klinisch entwickelt.“

Einige Sekunden später gleitet ein Oberschenkel ins Gesichtsfeld. 

„Hier, dislozierte proximale Femurfraktur links!“

Der vom Notarzt spektakulär vorgefundene verschobene Bruch des Oberschenkelschafts ist trotz der beschränkten Möglichkeiten bereits am Unfallort wieder so gut eingerichtet worden, dass man den Bruch äußerlich jetzt nicht mehr erkennen kann. Hier aber, im CT, sieht man die Bruchstelle und den Versatz der beiden Knochenstücke deutlich.


„Vorläufige Ruhigstellung mit einem Fixateur externe.“

Der Radiologe fährt zum anderen Bein, erkennt dort eine knöcherne Absprengung am oberen Ende des Oberschenkelknochens und fährt schließlich zu den Armen.


An den Unterarmen hat die Wucht des Aufpralls eine verheerende Wirkung gezeigt. Die Knautschzone des Radfahrers!

„Dislozierte Radiusfraktur rechts.“

Nach dem Trümmerbruch des rechten Speichen­knochens erscheinen Brüche des linken Ellen- und Speichenknochens im Bild. Dann Brüche des Zeigefingergelenks sowie des kleinen und Zeigefingers an der linken Hand. Auch hier sind die Knochenstücke gegeneinander versetzt.


„Dislozierte Frakturen von Radius und Ulna links.“ Wieder schaut der Radiologe zum Chirurgen.

„Zunächst nur vorläufige Ruhigstellung mit Fixateur externe“, entscheidet dieser. „Später stabilisieren wir die Finger mit Kirschner-Draht.“

Während der Patient für den Transport in den OP vorbereitet wird, ruft der Emergencyleader noch: „Wir müssen schnellstens das Implantat besorgen. Zwischenzeitlich können wir nichts anderes tun, als dafür sorgen, dass der Blutdruck nicht zu hoch ist.“

vorläufige Ruhigstellung einer Unterarmfraktur mit Fixateur Externe

Ärzte

Ich bewunderte die Ärzte im Krankenhaus und hatte hohen Respekt vor ihnen. Sie hatten mein Leben gerettet und kümmerten sich um meinen Fortschritt. Sie hatten Piepser und Handys bei sich, waren immer erreichbar und ständig im Stress. Beim ersten Piepsen rannten sie los. Es musste dringend, konnte ein Notfall sein. So wie nach meinem Unfall, als ich zum Schockraum und dann zu den Operationen gebracht wurde.

Ein befreundeter Arzt hatte mir einmal von den Woch­en­­enddiensten erzählt: „Es beginnt am Freitagabend, nach dem Ende der normalen Arbeitszeit und geht über Samstag und Sonntag bis Montagfrüh inklusive der Nächte. Und am Montag beginnt dann wieder die reguläre Arbeitszeit“, sagte er. „Ich hatte Kollegen, die waren am Montag fix und fertig und ich sah, wie ihre Hände zitterten.“ Er hatte das während seiner ersten Anstellung kurz nach der Ausbildung erlebt. Das war schon einige Jahre her, doch wie war es heute?

Ich fragte mich, welche Erwartungen, welche Ansprüche ich gegenüber diesen Menschen haben konnte. Ich hoffte, dass mein Arzt nicht schon einen Wochenenddienst in den Knochen haben möge, wenn ich das nächste Mal an einem Montag zu einem kritischen Eingriff in den Operationssaal gefahren wurde.

Ich wusste, dass ich ein totaler Pflegefall war, gewissermaßen Pflegestufe Maximum, denn nichts konnte ich allein. Ich war auf Hilfe angewiesen wie nie zuvor.